Neulich – es ist schon eine Weile her – eröffnet mir unser ältester Sohn auf dem Heimweg von der Vorschule: „Mama, ich möchte alleine von der Schule nach Hause gehen.“ Oh je, da ist mir erst einmal schlecht geworden. Mein kleiner sechsjähriger Junge wird flügge. Dass er von Anfang an alles gegeben hat, um nicht wie ein Vorschüler zu wirken, habe ich ja bereits gemerkt. Aber dass er nun schon so weit ist, geht mir plötzlich durch Mark und Bein. Mit einem dicken Kloß in Hals und Bauch gehe ich weiter den Weg entlang. Am liebsten hätte ich geantwortet: „Nee, mein Kleiner, das erlaube ich (noch) nicht.“ Aber das hätte auch nach hingen losgehen können. Ich will mein Kind ja nicht zu einem Angsthasen erziehen. Ich bin der Meinung, wenn Kinder wirklich etwas wollen, was sie zu mehr Selbständigkeit bringt, sollte man sie (unter Berücksichtigung ihres Alters, ihrer geistigen Reife und ihrer Vernunft) darin unterstützen.
Der Schulweg unseres Jungen beträgt ca. 700m im Wohngebiet. Ja, auch da heizen die Autos manchmal wie die Berserker durch die 30er-Zone. Und Grundstücksausfahrten halte ich sowieso für so einen kleinen Stöps für supergefährlich. Aber auch ich bin ab der ersten Klasse immer meinen Schulweg alleine gegangen. Und mir ist nie was passiert. Also sage ich zu mir selbst: Du Gluckenmutter, reiß Dich jetzt zusammen und mach das einzig Richtige.
Also tue ich ganz überrascht – bin ich ja auch – und antworte auf seinen Wunsch so etwas wie: „Wenn Du das unbedingt willst, dann nehmen wir das in Angriff.“ Er lächelt. Abends berichte ich meinem Mann. Der reagiert ähnlich geschockt und sagt sofort: „Das können wir ihm doch nicht erlauben.“ Ich: „Wir müssen!“ Er: „Mir ist schlecht.“ Ich: „Mir auch.“
Um etwas Zeit zu schinden, eröffne ich unserem Sohn am nächsten Morgen: „Wir möchten Dir Deinen Wunsch gern erfüllen. Aber, bevor Du den Schulweg komplett alleine gehen darfst, musst Du ihn erst in Etappen üben.“ Mein Sohn: „Mama, was sind Etappen?“
Ich: „Das heißt, Du gehst erst einmal ein kleines Stück, dann immer mehr und mehr, bis Du den ganzen Weg alleine gehst.“ Er: „Okay!“ Als ich den Lütten mittags abhole, gehen wir seinen Weg mit anderen Augen ab und unterteilen die Strecke gemeinsam in fünf Etappen. Erste Etappe: bis zur Straßenecke; zweite Etappe: bis zur Hecke; dritte Etappe: bis zur nächsten Straßenecke undsoweiter undsoweiter bis wir zu Hause angekommen sind. Am nächsten Tag soll es losgehen.
Also setze ich mich abends mal wieder hin und bastele ein Stempelbrett. Mit Hilfe von Stempelkreisen zeichne ich seinen Schulweg auf eine Pappe und kennzeichne die einzelnen Etappenziele mit einem schraffierten Kreis. Nach jedem fünften Mal die jeweilige Etappe laufen – und zwar verkehrssicher – darf der Junge in die nächste Etappe springen. Wie bei einem Computerspiel. Unser Sohn findet es großartig. Daneben habe ich noch wichtige Regeln aufgeschrieben: gut gucken, aufmerksam sein, nicht trödeln, nicht träumen, immer auf dem Bürgersteig gehen, nicht von Fremden ansprechen lassen oder gar mitgehen, nicht an anhaltende Autos gehen etc. Unser Sohn hat seine Kommentare dann auch noch hinzugefügt:
Die Praxis: Ich bin zum Abholen nicht mehr bis zur Schule gelaufen, sondern bis zum Ende der jeweiligen Etappe. Dort habe ich auf ihn gewartet. Immer mit einem Blick auf die Uhr, um ungefähr abschätzen zu können, wie lange der Junge braucht, um von der Schule nach Hause zu laufen. Brauchte er mal länger, wurde ich schon nervös. Aber früher oder später kam er immer um die Häuserecke und winkte schon von Weitem, so dass seine kleine Schwester bei seinem Anblick vor Wiedersehensfreude nur so jauchzte. Unter uns: Wäre ich nicht in der Öffentlichkeit gewesen, hätte ich auch laut gejauchzt. Zu Hause gab es dann einen Stempel. Und zwar jeden Tag. So toll hat unser Sohn die Etappen gemeistert. Zweimal durfte er auch eine Strecke überspringen. Und vorgestern war es dann soweit. Das Stempelbrett war voll. Und unser Sohn geht seit dem alleine von der Schule nach Hause.
Zur Belohnung gab es einen von uns Eltern unterschriebenen, in Plastik laminierten, handlichen Schulweg-Führerschein, der unserem Jungen nicht nur bescheinigt, dass er alleine seinen Schulweg gehen darf (falls die Lehrer mal nicht Bescheid wissen), sondern wo auf der Rückseite auch ein Foto, seine Adresse und Telefonnummer vermerkt ist. Für den Notfall. Der Führerschein liegt nun immer griffbereit im Rucksack. Das beruhigt mich ein wenig. Und unseren Jungen macht es so unendlich stolz.
Meine Vorteilsanalyse im Nachhinein: 1. Ich habe gelernt loszulassen, indem ich meinem Kind mein absolutes Vertrauen geschenkt habe. Das stärkt nicht nur die Kinderseele, sondern ich selbst wachse auch daran. 2. Ich habe noch einmal mehr gemerkt, wie wertvoll meine Kinder für mich sind und dass ich einen Verlust nur schwer überleben könnte. 3. Etwas ganz banal Praktisches: Ich hätte es nie gedacht, aber unser Sohn entlastet mich damit ungemein. Ich kann die Mittagessensplanung ganz anders machen und ich muss den Mittagsschlaf der kleinen Schwester nicht darauf anpassen. Wenn sie müde ist, lege ich sie einfach schlafen, mein Sohn kommt dann ja von ganz allein.
Und wenn ich bald wieder arbeiten gehe, kann ich seine kleineren Geschwister aus der Kita abholen und wir treffen den großen Bruder dann zu Hause. Das ist für mich ein Weg weniger. Ich bin ihm dafür unendlich dankbar!
#strategieneinermutter